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Finkenraths Achtsamkeiten
Freitag, 17. Oktober 2008
Am Ende des Ganges
scroll | 17. Oktober 08 | Topic 'Schönheit'
Finkenrath hat Fluraufsicht. Wacht über Klogänger, notiert ihre Zeiten. Abiturklausuren werden geschrieben. Hier wie im ganzen Land. Im Schnitt entleeren sich die Studierenden in zwei Minuten. Weiß Finkenrath aus jahrelanger Erfahrung. Das wir auch hier so sein, in dem Schulgebäude, das er kaum kennt, weil er normalerweise in der abgelegenen Außenstelle arbeitet.
Es zieht. Der Flur im Backsteingebäude aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts ist fast hundert Meter lang. Ein Bildungsgeburtskanal. Grau gestrichen mit Ölfarbe. Grau belegt mit PVC. Die Decke ist drei Meter hoch. Man hat sich Rundbögen über den Klassentüren geleistet. Die Türen selbst sind in einem etwas helleren Grau abgesetzt. Verspieltheit nach preußischer Art. Das Haus könnte auch als Kaserne oder Lazarett dienen.
Finkenrath notiert: „Herr Stellmacher, 10.30 bis 10.33 Uhr.“ Eine Minute zu lang.
Man hat Stellwände quergestellt, die allen Nichtprüflingen den Gang zum Klo versagen sollen. Finkenrath schickt die Bedürftigen in den Keller, wo es dem Vernehmen nach ein Ausweichklo gibt. Ein älterer Herr kommt nach wenigen Minuten wieder hoch und brüllt: „Das Scheißklo ist abgeschlossen. Ich muss pissen! Ich pinkel jetzt an die Wand!“ Und stürzt ins Treppenhaus. Eine volle Blase genügt, um aus einem gesetzten Herrn einen Amokpinkler zu machen.
„Frau Schultheiß, 10.40 bis 10.41 Uhr“. Wie macht sie das?
Finkenrath prüft seinen Blasendruck. Er muss bis 13.00 Uhr durchhalten. War vor Dienstantritt noch mal kurz. Hat sich den Automatenkaffee verkniffen. Ob auch er Amokpinkler werden könnte? Er, der immer alles in sich hineinfrisst? Doch. Selbst er.
Die Glastür zum Treppenhaus hat eine Drahtgeflechteinlage. Finkenrath sieht den Kollegen Werder ums Eck kommen. Gleich wird es zur Stunde läuten. - Es gongt im C-Dur Akkord. Werder grüßt und verschwindet in R 114. Andere Türen fallen ins Schloss. Stundenbeginn. Wortfetzen von Werder: „Summa summarum.... sechsmal die Fünf...“ Werder gibt Mathe. Finkenrath hatte das vergessen.
Da erklingt eine Tonleiter wie von fern. Klarinettentöne, sauber aufgereiht. Akkorde mischen sich ein: Klavierakkorde. Finkenrath ist berührt, hat damit überhaupt nicht gerechnet. An seiner Schule gibt es keinen Musikunterricht. Er hebt den Kopf, um besser zu hören. Aber es ist schon vorbei.
Werder schreibt an die Tafel. Kreide knirscht durch die Tür. Und Werder liest laut vor, was er schreibt. Summa summarum. Finkenrath sackt wieder über seinem Protokoll zusammen. Macht seine Atemübung, bei der ihm sein dicker Bauch auffällt. 11.10 Uhr. Er heftet seinen Blick auf das Ende des Flures. Unscharf erkennt er dort eine Tür. Weiß. Davor eine Studierende, einen Beutel mit der Linken tragend. Sie steht aufrecht vor der Tür, den Rücken zum Flur, als warte sie, dass jemand sein Herein! rufe. Eine halbe Minute bestimmt. Dann legt sie den Beutel ab. Finkenrath setzt die Brille auf, reckt sich über den Tisch, damit er besser sieht. Sieht die Figur am Ende, die nun die Arme zur Decke, zum Himmel streckt, das linke Bein anwinkelt, die Fußfläche ans rechte Bein bringt, dann wieder das linke streckend zu einer unerhörten Musik. Die Figur dann spiegelt, symmetrisch an einer gedachten Achse. Ganz leicht sieht das alles aus. Federleicht, als könne sie fortfliegen. Dreht sich dann in einer Pirouette vor dieser weißen Tür und kommt zum Stehen. Nimmt den Beutel und entschwindet durch die weiße Tür.
Finkenrath weiß, dass er mit niemandem über dieses Bild sprechen kann. Er protokolliert: „Frau Engel, 11.20 bis 11.25.“

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